Algorithmen können journalistische Verantwortung nicht ersetzen
Code statt publizistischer Kompass?
20.03.2022 von Barbara Feldmann
„Hinter Zahlen schauen, Zusammenhänge erkennen – das fehlt einfach.“ Mit diesem Zitat überschreibt Caroline Lindekamp ihren Artikel in der aktuellen Ausgabe 3/2022 des DJV-Verbandsmagazins journalist. Einen zarten Freudensprung macht jedes Publizistenherz, das – ausgehungert von den faktenfernen Zahlendrehereien der vergangenen Jahre – auf ein Erwachen in den Redaktionen hofft. Doch leider verliert sich der Hauch von Silberstreif schon im Vorspann des Berichts: eine Antwort auf die als sinnbildlich ins Feld geführte Unfähigkeit, Durchschnitt von Mittelwert zu unterscheiden, lautet der Autorin zufolge Datenjournalismus. Kann Code tatsächlich unseren publizistischen Kompass ersetzen?
Digitalisierung hat Kultcharakter angenommen
Die Auslagerung von Problem- und Fragestellungen ins Technologische ist eines der dominierenden Phänomene unserer Zeit. Während die breite Masse mit immer neuen Katastrophenerzählungen bei der Stange gehalten wird, werden im Hintergrund der politischen Maschinerie kosten- und folgenschwere Säue durch Dörfer und Haushaltsbudgets getrieben. Eine davon ist die Digitalisierung – ein weiterer verabsolutierter Einheitsbegriff, dessen inflationär beschworene Tragweite für die Zukunft der gesamten Menschheit nur Skepsis hervorrufen kann. IT-Technologien als universelle Heilsbringer zur Optimierung von Maschine, Mensch und Miteinander zu sehen, ist ebenso grotesk wie populär. Die viel beschworene digitale Transformation hat im Kosmos transhumanistischer Glaubenssätze inzwischen kultische Dimensionen angenommen.
Datengetriebene Ökosysteme als Melkkühe der Mächtigen
Selbstredend können Digitaltechnologien hilfreich sein. Sie sind menschgemachte Werkzeuge, die – gezielt und mit Verstand benutzt – bestimmte Abläufe und Prozesse übersichtlicher gestalten oder beschleunigen lassen. Vor allem aber bieten die virtuellen Werkzeugkoffer der weltweiten IT-Durchdringung eines: ein Instrument zur Kontrolle. Wissen ist nicht erst seit Francis Bacon Macht. Wer also die Daten hat, der hält die Fäden in der Hand. Und siehe da, so ist seit Jahren in einschlägigen Publikationen zu vernehmen: „Die Welt ist datengetrieben.“ Und indem dieses Postulat leichtfüßig wie ein Naturgesetz daherkommend, rieselt es wie Sand noch tiefer und in den letzten Winkel unternehmerischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen, medialen und gesellschaftlichen Wirkens hinein. Die großen Nutznießer dieser blinden IT- und Dateneuphorie sind die Digitalkonzerne, die ihre Lösungen wie die Devotionalien eines Technologiekultus bis hinein in unsere Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer verkaufen.
Antworten sind immer nur so klug, wie die Fragen, die ihnen zugrunde liegen
„Die Welt ist datengetrieben“ – wie viel Substanz hat dieser Glaubenssatz? Es scheint sich eine große Erkenntnis dahinter zu verbergen, die bei genauer Betrachtung an Profanität allerdings kaum zu überbieten ist. Natürlich basiert die Welt oder vielmehr die Wahrnehmung, die wir als Menschen vom Weltbegriff haben, auf Input. Auf der Kontextualisierung von Symbolen, die uns – nach einer kollektiv festgelegten semantischen Logik – die Beschreibung der Welt da draußen erlaubt. Und nur, weil wir dank Rechenmaschinen mittlerweile unglaubliche Massen von Informationen (= kollektivierte Wahrnehmungseinheiten) verarbeiten können, bedeutet das nicht, dass unsere Erkenntnisse deshalb von größerer Qualität sind. Denn am Anfang einer jeden Analyse steht eine Frage oder eine Prämisse. Und wenn diese in ihrem Deutungsrahmen begrenzt sind – was sie im Kosmos menschlichen Denkens nur sein können –, dann werden auch die Antworten weiterhin begrenzt sein. Daran werden Tausende von Supercomputern nichts ändern. Jedes mathematische und damit auch informatische Modell ist ebenso wie jeder maschinelle Lernansatz oder jede (schwache) KI nur so gut und klug, wie die Grundannahmen, Algorithmen, Modelle und Daten, die ihnen zugrunde liegen.
Wohlfeile Informationshäppchen auf Knopfdruck
Wie ist in diesem Kontext datengetriebener Journalismus zu verstehen? Beobachten wir mit diesem Phänomen nicht eine weitere Auslagerung von Eigenverantwortung – eine Ausweichreaktion, die der dringend notwendigen Emanzipation des Presse- und Medienbetriebs von den vorgefertigten Erzählungen der wirtschaftlichen und politischen Profiteure diametral entgegensteht? Zugespitzt ließe sich der Wunsch vermuten, dass den Publizierenden die wohlportionierten, adrett garnierten Informationshäppchen doch bitte auf Knopfdruck wohlfeil in den Mund fliegen sollen. Einem medialen Schlaraffenland gleich, dass nichts anderes als träge Abhängigkeit hervorruft. Der journalistischen Datenspeisung haftet obendrein die Illusion medienethischer Bekömmlichkeit an, basiert sie doch auf einer vermeintlichen Neutralität und damit scheinbaren Unabhängigkeit, wie sie nur emotionslose Maschinen zu bieten haben. Neutrale Daten, unabhängige Auswertungen, absolute Objektivität – vermitteln Algorithmen tatsächlich übergeordnete Realitäten?
Programmcode als Grundzutat der digitalen Alchemie
Gegenwärtige Medientheorien gehen so weit, das Prinzip „Code is Law“, also die Betrachtung von Algorithmen als immanentes Prinzip der Normengebung, zu „Code is logos“ zu stilisieren – mit diesem Postulat würde Programmcode zu einer allem Sein innewohnenden Größe, die a priori unsere Geschicke mitbestimmt, einem Naturgesetz ähnlich. Doch resultiert diese Größe tatsächlich aus sich selbst heraus? Oder pragmatischer gefragt: Wer schreibt die Programmzeilen, die letztlich darüber entscheiden, wie Daten und Prozesse interpretiert werden? Sind die Konstrukteure unserer digitalen Ökosysteme frei von Anhaftungen, Projektionen und subjektiven Wahrnehmungsbedingungen? Erschaffen sie also mit jeder Zeile Code das absolut Neutrale, das Unbestechliche und damit quasi eine Form der reinen Vernunft? Dem ist wohl kaum so, denn irgendwer füttert die kühl analysierenden Maschinen. Und das ist – bei aller religiöser Verherrlichung, die Goldene Kälber wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) in dieser transhumanistischen Epoche erfahren – bis heute der Mensch. Niemand, der Datenmodelle entwirft, Algorithmen schreibt und KI das Lernen beibringt, ist frei vom zutiefst menschlichen Streben nach Wirksamkeit und Zugehörigkeit. Dabei ist der Traum von der Erschaffung des autarken Bewusstseins so alt wie der Mythos vom Golem selbst. Und er steht heute wie damals für den Wunsch des Menschen, aus seiner eigenen Begrenztheit auszubrechen und sich damit endlich von den Fesseln der (kognitiven) Endlichkeit zu lösen. So bleibt nichts weiter als das moderne Märchen vom Stein der Weisen, dem heiligen Gral und dem Wasser des Lebens. Zu glauben, dass die Beschreibung einer Logik die Logik (oder der Logos) selbst ist, ist jedoch fehlgeleitet. So entstehen lediglich Systeme, die sich wie jede weniger komplexe Erzählung auch lediglich aus sich selbst heraus bestätigen.
Digitalisierung sorgt allenthalben für Reibungsverluste
Blicken wir auf die Realität, die uns umgibt: Code ist in zahlreichen Unternehmen und Organisationen nicht sinnstiftender Logos, sondern Bürde. Anwendungen und deren sisyphosgleiche Administration verschlingen vielerorts Geld und Nerven, ohne dass sie einen erkennbaren Nutzen bringen würden. Prozesse werden unnötig verkompliziert, wo einstmals kurze Wege und undogmatische Zusammenarbeit nicht nur gute Resultate, sondern auch Freude an der Arbeit gebracht haben. Die digitalen Überreaktionen der Managementetagen haben Kolleginnen und Kollegen entfremdet und Kommunikationsstrukturen verkünstelt. Eines von vielen Resultaten: Das freie Wirken, die Entwicklung von Miteinander aus der Dynamik des Systems heraus und auch die Eigenverantwortung von Mitarbeitern sind in den Schatten von Tools, digitalisierten Prozessen, automatisierten Reportings und der Mittelbarkeit virtueller Kollaboration getreten.
Analysen ohne qualifizierte Datenbasis liefern keine stichhaltigen Ergebnisse
Als IT-Journalistin schreibe ich seit vielen Jahren über Themen wie Data Mining, Business Intelligence und automatisierte Datenverarbeitung. Eine von vielen Erkenntnissen, die ich aus meinen Einblicken in diese Themenfelder gewinnen durfte: Es ist extrem aufwändig und kostet viele Ressourcen, die Daten eines definierten Systems zu erfassen, harmonisiert zusammenzuführen und valide auszuwerten. Es ist diese Erfahrung, aus der meine initiativen Zweifel an der Corona-Erzählung entstanden sind: als die Johns-Hopkins-Universität (JHU) etwa zeitgleich mit der Ausrufung der Pandemie durch die WHO globale Daten zur Entwicklung der Fallzahlen bereitstellte. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, innerhalb kürzester Zeit relevante Datenquellen zu identifizieren, eine Vielzahl an heterogenen Datenformaten zu harmonisieren und daraus haltbare Prognosen zu entwickeln. Auf einer nicht qualifizierten Datenbasis Analysen aufzusetzen, kann keine aussagekräftigen Ergebnisse hervorbringen – und ist schlicht unseriös. Wünschenswert wäre gewesen, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den internationalen Leitmedien genau diesem Umstand mit kritischer Haltung begegnen. Doch das Gegenteil war der Fall: Die Zahlen der JHU wurden genutzt, um das Schreckensnarrativ zu nähren. Zudem sind zahlreiche Verfechter eines datengetriebenen Journalismus der Meinung, es würde ausreichen, wenn sie selbst ein paar logische Operatoren definieren, sich die Daten aus Quellen wie Gesundheits- oder Einwohnermeldeämtern zusammensuchen und daraus vermeintlich faktenbasierte Zusammenhänge ermitteln. Dass die Qualität einer jeden Analyse oder Prognose mit der Beschaffenheit von Datenerfassung und -erhebung steht oder auch fällt, scheint dabei oft ins Hintertreffen zu geraten.
Soll Journalismus zur „geilen“ Marke werden?
Die im journalist-Artikel zitierte Marie-Louise Timcke fragt „Wie können wir Skills aus Statistik und Informatik nutzen, um richtig geilen Journalismus zu machen?“ Richtig geiler Journalismus. Eine Formulierung, die von Geltungsdrang gekennzeichnet ist – scheinbar hat die nachwachsende Generation von Journalisten und Journalistinnen nichts aus den Irrwegen und der effekthaschenden Eitelkeit früherer Jahrgänge gelernt. Und erkennt nicht, wie käuflich der eigene Geltungswunsch, die Verlockung der Wirksamkeit jeden einzelnen von uns macht. Es geht im Journalismus nicht um eine Marke à la „Geiz ist geil“. Wir brauchen keinen nachfragegerechten, wohlgefälligen Journalismus, der sich gut verkauft. Unsere Gesellschaft braucht eine ehrliche, unabhängige und vor allem mutige Berichterstattung, die auch dann noch hinter Zahlen schauen und Zusammenhänge erkennen will, wenn dadurch Narrative ins Wanken geraten.
Tools und Apps können inneren Kompass nicht ersetzen
Bevor wir bis in die letzte Lokalredaktion mit IT-Tools für einen datengetriebenen Journalismus vernebelt werden, sollten Journalisten und Journalistinnen ihre Hausaufgaben machen und ihre persönlichen Algorithmen auf den Prüfstand stellen. Die Ahnung, dass es einen Unterschied zwischen Durchschnitt und Mittelwert geben muss, kommt dem offenen journalistischen Geist nur aus sich selbst heraus – kritisches Hinterfragen, auch der eigenen Wahrnehmung – kann eine KI nicht berechnen. Wenn wir freien und unabhängigen Journalismus wollen, dann sollten wir vor einer Wahrheit nicht die Augen verschließen: Kein digitales Tool, kein Algorithmus wird jemals unseren inneren Kompass ersetzen können. Und noch viel weniger den Mut, den es braucht, wenn der Kompass nicht in die gleiche Richtung zeigt, in die die große Mehrheit schwimmt.
Gerade wir Journalisten müssen ertragen, dass es die eine Wahrheit nicht gibt, dass Realitäten dynamische Gebilde sind, die sich ständig bewegen und stets vom Betrachtungswinkel abhängen. Die Emotionslosigkeit, Statik und Kälte eines IT-Tools zu nutzen ist nichts mehr als der verzweifelte wie naive Versuch, sich der Verantwortung des Abwägens und der fortlaufenden Reflexion der eigenen Voreingenommenheit zu entziehen.
Bildquelle: Adobe Stock / metamorworks
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