Ukraine-Konflikt: Es braucht politische Neutralität und inneren Frieden

Das zweischneidige Friedensschwert der westlichen Staaten

08.03.2022 von Ulrich Becker

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Oder im Umkehrschluss: Kriege werden in der Regel mit Lügen begonnen. Welche sind es dieses Mal? Ein differenzierter Blick auf den Ukraine-Konflikt.

Wunsch nach Zugehörigkeit macht blind für die Gegenseite

Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir fast nichts sicher wissen. Nichts entspringt einer eindeutigen Wahrheit, vieles ist Ansichtssache. Große Teile der Menschen in Russland oder den NATO-Ländern leben schlicht in unterschiedlichen Wahrnehmungswelten; (oft moralisch verbrämte) Kategorien wie richtig und falsch sind hier unangebracht. Die Ukraine wird missbraucht für geopolitische Spielchen von Gruppierungen, denen sicherlich nicht das Wohlergehen von irgendjemandem wichtig ist. Es geht um Macht, Geld und Kontrolle. In der Ukraine wird seit einiger Zeit um die Vorherrschaft gekämpft. Beide Seiten haben Blut an den Händen. Der Krieg ist viele Jahre alt, er ist nicht neu, er hat jetzt nur die Form gewandelt. In so einer Situation pauschal für eine Kriegspartei Stellung zu beziehen und sich damit automatisch gegen die andere Seite zu wenden, das mag menschlich nachvollziehbar sein: "Wir müssen zusammenhalten!". Aber eben dieses identitäts- und zugehörigkeitsstiftende Verhalten ist es auch, das zu Kriegen führt. Wenn wir nicht lernen, diesen sozialen Reflex zu überwinden, werden wir nie eine friedliche und damit bessere Welt erleben. Der Wunsch nach Zugehörigkeit blendet jegliches Verständnis für die andere Seite aus, da fragt sich keiner mehr: Warum handeln die anderen so?

Die verlogenen Friedensparolen der globalen Kriegstreiber

Zynisch wird es allerdings, wenn politische Parteien, die in der Vergangenheit selbst völkerrechtlich fragliche Kriege befohlen und jüngst mit ihren eskalierenden Drohungen beständig Öl ins Feuer gegossen, zu einer „Friedensdemonstration“ aufrufen. Eine dieser so genannten Friedensdemos fand vor kurzem am Universitätsplatz in Heidelberg statt. Russland wurde als alleiniger Aggressor bezeichnet, Waffenlieferungen an die Ukraine wurden bejubelt. Dies alles in das Zeichen des Friedens zu setzen, ist ein unerträglicher Hohn gegenüber den Opfern der von den einladenden Parteien befohlenen und begrüßten Kriege. Wo war der Aufschrei der Demonstranten beim Krieg in Lybien, Jemen, Irak, Syrien oder Afghanistan? Wer ist in unserem Land gegen den bereits sieben Jahre währenden Beschuss des Donbass auf die Straße gegangen? Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Leben von Menschen bestimmter Religionen, Ethnien und Landstriche mehr zählt – das von Muslimen oder Russen scheinbar nicht so sehr. Wir dürfen zudem nicht aus den Augen verlieren, dass bei den Konflikten im Nahen Osten und Vorderasien die NATO oder die USA stets die Finger immer im Spiel hatten.

Paternalismus und Blanko-Solidarität helfen nicht

Wir sollten als Gesellschaft aufhören, anderen Menschen vorzuschreiben, was gut für sie ist. Was haben wir uns in den letzten Jahren mit unserem blinden Erziehungsstreben gegenseitig angetan, wo es besser gewesen wäre zu fragen: Was sind deine Ängste? Was sind deine Bedürfnisse? Stattdessen haben wir uns in einen mentalen Bürgerkrieg treiben lassen, der uns immer tiefer in den Sumpf autoritärer Strukturen führt. Wir sollten auch aufhören, anderen Völkern zu erzählen, was gut für sie ist und sie bestrafen, wenn sie sich nicht so verhalten, wie wir das gerne hätten. Der globale Paternalismus muss endlich ein Ende finden. Wir sind keine Russen, wir sind keine Ukrainer, wir leben nicht vor Ort, wir wissen nicht, wie sich diese Menschen fühlen. Völker müssen, sollen, dürfen und können selbst herausfinden, was richtig für sie ist. Das ist teilweise ein schmerzhafter Prozess und Bruderkriege sind bekanntermaßen besonders grausam. Wir können das von außen nur verschlimmern und nehmen dabei selbst Schaden. Blanko-Solidaritäts-Bekundungen hat die deutsche Nation 1914 auch ausgestellt. Sie wurden benutzt, um die deutsche Gesellschaft mit all ihren heterogenen Strömungen und Interessen gegen den Feind von außen zu einen. Mit Erfolg. So schrieb der Berliner Philosoph Alois Riehl kurz nach Eintritt des Deutschen Reiches in den Ersten Weltkrieg: «Das Vaterland ruft! Die Parteien verschwinden. […] So ging dem Kriege eine sittliche Erhebung des Volkes voran.» Der Historiker Friedrich Meinecke ergänzte, das deutsche Volk sei nun «eine einzige, mächtige, tief atmende Gemeinschaft». Das Ergebnis war Krieg. Dieser Domino-Effekt droht uns jetzt wieder. Noch ruft in unserem Land niemand zu den Waffen (es werden nur Frieden heuchelnd andere damit ausgestattet), doch autoritäre, paternalistische und totalitäre Tendenzen auf der einen und ein überbordendes Zugehörigkeitsstreben andererseits heizen die Stimmung schon seit Monaten auf. All dies bricht sich nun auch im Ukraine-Konflikt Bahn. Daher braucht es nicht nur Frieden, sondern mehr als alles andere: staatliche Neutralität. Keine Einmischung, keine Waffenlieferungen von Staats wegen. Die Ukraine ist nicht wehrlos, sie kann sich verteidigen, Waffen herstellen und kaufen.

Nur der innere Frieden schafft der Eskalation ein Ende

Ich habe zwei Jahre in der ehemaligen Sowjetrepublik Estland gelebt und kenne die Mentalität dort: Die Menschen sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und wollen nie wieder fremdbestimmt werden. Sie fürchten den russischen Bären. Das ist in der Ukraine sicher ähnlich. Aber auch in Russland gibt es viele Ängste, man fühlt sich bedroht, isoliert, vom Westen nicht geachtet. Auch das sind Gefühle, die für sich stehen und kein Richtig oder Falsch kennen. Wir sollten sie ebenso achten. Beide Seiten haben Recht, beide haben Angst. Diese Eskalationsspirale führt in den Abgrund.

Wir müssen wieder den Mut finden aufeinander zuzugehen. Einander zuzuhören. Unseren Mitmenschen und – vielleicht am schwierigsten – uns selbst zu verzeihen. Denn wenn in uns Frieden ist, dann ist auch Frieden im Außen möglich.

Ulrich Becker, geboren 1981, ist Wirtschaftsingenieur und selbstständig im Bereich Produktionsplanung, -steuerung und -controlling sowie Datenanalyse. Er ist verheiratet, hat vier Kinder und ist seit 2020 in der Partei dieBasis für mehr demokratische Teilhabe aktiv, für die er 2021 für den Landtag kandidierte. Er setzt sich seitdem für mehr Mitbestimmung, Selbstverantwortung, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung ein.

 

Bildquelle: Adobe Stock / freshidea

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