Wie wandeln wir Angst, Ärger und Resignation in Freiheit und Zuversicht um?

Gesund bleiben in Zeiten des Umbruchs

27.02.2022 von Christian Zehenter

Wir schreiben das Jahr 2 n. C., und Normalität ist noch nicht in Sicht. Die Veränderung der Gesellschaft hat Spuren hinterlassen und tut es noch. Angst und Misstrauen prägen ebenso den Alltag wie die Omnipräsenz von Regeln und Moral. Noch nie stiegen Depressionen, Sucht, Übergewicht, Stress und Einsamkeit in der Nachkriegszeit so stark an wie in den Zeiten der Coronamaßnahmen - oder sollten wir sagen: im neuen Woke-Zeitalter? Doch wie kommen wir gesund durch diese Zeit, ohne Wut, Angst, Burnout oder gar Verzweiflung? Im Zentrum steht dabei, innere Freiheit zu entwickeln, ohne sich die Unfreiheit anderer zu eigen zu machen.

Gandhi, Martin Luther King und Bonhoeffer zogen ohne Wut und Schwert ins Feld

Auch wenn dies paradox wirkt: Der unverblümte, aber zugleich friedliche und akzeptierende Blick auf das, was ist (vgl. "Klartext: Wie steht es um unsere Gesellschaft?"), bedeutet den ersten Schritt zum inneren Frieden. Dies schließt keineswegs den Einsatz für die äußere Freiheit aus: Vorbilder wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela oder Dietrich Bonhoeffer zählen zu den wichtigsten Freiheitskämpfern der jüngeren Geschichte. Aber sie zogen nicht mit Schwert, Wut und Verzweiflung zu Feld, sondern mit innerer Freiheit und Klarheit. So brachte Bonhoeffer im Kellergefängnis von Berlin im Angesicht seiner Hinrichtung 1945 nicht etwa eine flammende Abrechnung, eine vernichtende Anklage oder einen infernalen Hilferuf zu Papier, sondern ein fast zartmütiges Manifest des Vertrauens und der Zuversicht, beginnend mit: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarte ich getrost, was kommen mag“. Damit hat er mehr Freiheit in die Welt gesetzt als jede bewaffnete Miliz. Und dennoch war er weder naiv noch blind, sondern wusste, wie es um ihn und die Welt steht, schrieb er doch auch: „Jede Machtentfaltung schlägt einen großen Teil der Menschen mit Dummheit. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. (…) So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen.“ Dies ist das Zeugnis eines ebenso radikal-kritischen wie vertrauensvollen und innerlich freien Menschen. Doch wie gelangt man zu Vertrauen und innerer Freiheit?

Nicht in das Drama hineingehen

Um welche (vermeintliche) Katastrophe es auch geht: Drama vollzieht sich erst in der Reaktion des Menschen. Somit ist nicht die „Realität“, sondern unsere Sicht darauf dramatisch. Selbst angesichts der ultimativen Katastrophe, der eigenen Hinrichtung, fühlte sich Bonhoeffer - zumindest irgendwo und irgendwann - „wunderbar geborgen“, wo sich ein anderer Mensch an selber Stelle der Verzweiflung hingegeben hätte. Somit können wir ausnahmslos alles in und auf der Welt auch ganz anders betrachten, als wir es vielleicht gewohnt sind.

Erwartungen und Ängste in Zuversicht auflösen

Wie Shakespeare schrieb, konnte Romeo nicht ohne Julia leben und wählte daher den Freitod. Viele Zeitgenossen von Julia hätten jedoch durchaus bestätigt, dass man ohne sie leben könne. So dürfen wir justieren: Was erwarten, brauchen und hoffen - und was befürchten wir? Die äußere Welt können wir - außerhalb unserer alltäglichen Gestaltungsmöglichkeiten - nicht verändern, wohl aber unsere Erwartungen und Ängste. Wie wäre es, beide schrittweise in Vertrauen, Zuversicht und Dasein aufzulösen?

„Wenn du in den Abgrund blickst, blickt er auch in dich“

Mandela, Gandhi und Martin Luther King wurden keineswegs in eine Welt der Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie hineingeboren. Doch sie trugen diese Freiheit in sich - wider die Gewalt, Unterdrückung, Apartheid und den Hass. Die Freiheit war ihr Thema, nicht Gewalt, Zorn oder Unfreiheit. Denn das, mit dem wir uns ausgiebig beschäftigen, wird zunehmend Teil von uns, oder mit Nietzsches Worten: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

Was auch kommen mag, wir können damit leben

Daher gilt, so widrig die Verhältnisse auch sein mögen: Freiheit kommt vor allem von innen. Und wer sich mit Freiheit statt Unfreiheit, Frieden statt Gewalt, Versöhnung statt Anklage beschäftigt, wird diese guten Kräfte immer mehr zum Teil seinen Lebens und Empfindens machen, damit auch andere inspirieren - und letztlich auf seine persönliche Art die Verhältnisse stärker ändern als durch jeden Feldzug. Obwohl dies widersprüchlich wirkt, öffnen Akzeptanz und Zuversicht die Tür dazu. Welche Verhältnisse auch bestehen oder kommen mögen: Wir können damit leben. Wir betrachten sie - und die Menschen, die sie umsetzen - mit Liebe, Humor, Verständnis, Versöhnung und Güte.

Versöhnung, Freiheit und Entspannung kommen von innen

Somit kommt nicht nur Freiheit, sondern auch Entspannung, Humor und Versöhnung von innen - und nicht von zufällig günstigen äußeren Verhältnissen. Dies gilt allerdings auch für Wut, Angst und Verzweiflung. So verschwinden diese keineswegs, wenn die äußeren Bedingungen günstig sind - also in Zeiten des Friedens, Wohlstands, der Freiheit, Gesundheit und Sicherheit -, sondern scheinen dann zu Teilen sogar zuzunehmen. So ermittelte eine Studie, dass (ehemalige) Krebskranke fünf Jahre nach ihrer Diagnose im Schnitt zufriedener sind als gleichaltrige Gesunde. Offenbar haben sie durch ihre Erfahrung mehr vom Sinn und Wert des Lebens verstanden - oder weniger an sinnlosen Vorhaben festgehalten. So muss jeder wie Dietrich Bonhoeffer für sich beantworten: Worum geht es für mich, warum lebe ich, wohin gehe ich? Wer dies tut - und lernt, im Dasein achtsam zu ruhen, unveränderliche Dinge anzunehmen und veränderliche liebe- und lustvoll zu gestalten -, findet mehr Vertrauen und Zuversicht. Denn bedingungslose Akzeptanz und tatkräftige Gestaltung der Verhältnisse schließen sich keinesfalls aus, sondern sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Echte Begegnung leben, wann und wo immer möglich

Echte Begegnung und Verbindung spielen hierbei eine wichtige Rolle. Denn gemeinsam öffnen und halten Menschen einen Raum, in dem - unabhängig von allen widrigen äußeren Bedingungen - echtes Leben und Entwicklung stattfinden können. Hierbei kommt es auf die Qualität, nicht die Quantität, der Begegnung an: Wer einem einzigen Menschen wirklich begegnet, verschafft sich mehr Verbindung als unter einer Menschenmenge oder mit pausenloser Kommunikation.

Karma: „Alles ist gut und sinnvoll, wie es gerade geschieht“

Eine weitere Hilfe bietet die Lehre des Karma. Sie besagt, dass alles gut, sinnvoll und richtig - und ohnehin unabänderbar - ist, wie es gerade geschieht - als Folge unserer eigenen Handlungen. Viele Menschen bringen dies vor allem mit früheren Leben in Verbindung. Doch die Ursachen der Geschehnisse unseres Lebens liegen laut der Lehre meist viel näher: in den letzten Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. Kurz gesagt: Das, was wir in die Welt hineintragen, widerfährt uns auch - ob dies Mitgefühl, Großzügigkeit und Freude - oder Wut, Stolz, Furcht und Egoismus sind.

Ego: Mehr Illusion als absolute Instanz?

Wo ist jedoch das „Ich“, das aller Furcht und Sorge zugrunde liegt, das keiner je gesehen hat, aber jeder als gegeben voraussetzt und als unveränderliche, ewige Größe identifiziert? Alle Angst und Bedrängnis beruht aus buddhistischer Sicht auf der irrtümlich angenommenen Existenz dieses Egos. Auch die Hirnforschung findet nirgendwo ein Ich im Gehirn. Es setzt sich physiologisch vielmehr aus diversen Erinnerungen und aktiven Zentren zusammen, darunter die Körperempfindung, das biografische Gedächtnis oder die Wahrnehmung von Raum und Zeit. Auch psychologisch erkennen wir diverse Ichs, sind wir doch zugleich z. B. Kind, Eltern, Mitarbeiter, Freunde, Geliebte und Liebende. Schließlich wäre auch nicht erklärbar, wie ein absolutes Ich im Kleinkindalter plötzlich in den Menschen hineinfahren und sich am Lebensende ebenso plötzlich auflösen oder in andere Welten wandern sollte. Somit scheint das Ich viel eher eine Überkreuzung von Energielinien unseres Systems zu sein als eine absolute Instanz. Warum dies bedeutsam ist? Trifft dies zu, müssen wir vor nichts mehr Angst haben und uns von nichts bedrängt fühlen. Denn wenn das Ego nur eine (nützliche) Illusion ist, kann es auch nicht beschädigt oder zerstört werden. Wir sind demnach untrennbar mit der Welt verbunden, gewissermaßen ein Ausdruck von ihr, und nicht von ihr getrennt.

Akzeptanz, Selbstwirksamkeit und Optimismus als Weg

Diese Sicht lässt uns nicht nur die Turbulenzen unserer Zeit, sondern auch autoritäre Einschränkungen, Konflikte, Überlastungen, Schicksalsschläge und andere Herausforderungen entspannter überstehen. Hierbei stehen Akzeptanz, Selbstwirksamkeit und Optimismus ganz oben: vom Leben Gutes erwarten und wahrnehmen, Veränderliches kreativ und tatkräftig gestalten und Unveränderbares annehmen - gerade in durchwachsenen Zeiten.

Verantwortung, Bindungen und Selbstwahrnehmung als Ressourcen nutzen

Doch was kennzeichnet uns als Menschen, die innerlich freier und entspannter sind? Dann werden wir uns zeigen, Pläne, Ideen und Ziele entwickeln und lustvoll verfolgen. Wir sehen uns nicht als Opfer der Umstände, sondern fühlen uns für uns und unsere Aktivitäten verantwortlich. Ängste, Abwehr und Wünsche verlieren ihren Imperativ und werden zu nützlichen Wegweisern. Wir gestalten und pflegen Beziehungen, Bindungen und Netzwerke als unersetzliche Ressource. Wir können unsere Gefühle, Eigenheiten und Bedürfnisse wahrnehmen, reflektieren und nach den Möglichkeiten bedienen.

Wie es die Umstände erlauben, suchen wir förderliche und verlassen schädliche Bedingungen und sehen Krisen - wie auch alles andere - als veränderlich, vorübergehend und flüchtig an. Wir erlauben uns auch, zu trauern, zu zweifeln und zu scheitern - und machen danach weiter. Wir pflegen unser Grundvertrauen, unsere Neugier unser Selbstwertgefühl und unsere Fähigkeit, mit dynamischen Umständen entspannt zu leben - und halten uns an das Wasser: Es mäandriert, passt sich allen Bedingungen an und formt doch den Stein - und gelangt immer zum Meer. Es wird nie zerstört, sondern ändert nur seine Form.

Mehr leben als über das Leben grübeln

Jenseits aller Fragen der Grundhaltung, Lebenskunst und Politik wollen auch die Eckpunkte eines gesunden Lebens beachtet werden: Tiefer und regelmäßiger Schlaf, gute Beziehungen, tägliche Bewegung im Freien, gesunde Ernährung, fester Tagesrhythmus, befriedigende Aufgaben, Zeit-, Konflikt- und Selbstmanagement sowie achtsamer Umgang mit Sucht- und Genussmitteln einschließlich Medikamenten - und: mehr leben als über das Leben grübeln.

 

Bildquelle: Shutterstock / Kotenko Oleksandr

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