Gemeinsame Feindbilder als Bauanleitung für totalitäre Systeme
Klartext: Wie steht es um unsere Gesellschaft?
26.02.2022 von Christian Zehenter
Die Ereignisse eilen uns davon. Alle scheinen nur noch darauf zu reagieren. Scheinbar absolute Bedrohungen und Tragödien machen höchste Erschütterung und aggressive autoritäre Einschnitte notwendig, ob Viren, Extremisten oder Kriege. Es ist die Stunde der Erregung und Betroffenheit, des Durchgreifens, des Zorns der Gerechten und der harten Bandagen. Parlamentarismus, kluge Diplomatie und Meinungspluralismus waren gestern. Heute haben wir einen gemeinsamen Feind - wie auch immer dieser heißt -, und wir stehen geschlossen vereint im Brustton der Tugend und Rechtschaffenheit für unsere edlen Werte. Dass dies einer Bauanleitung für totalitäre Systeme und Kriege gleichkommt, scheint nur wenigen aufzufallen. Die Feindbilder sind in solchen Systemen fast austauschbar und werden von Zeit zu Zeit durch neue ergänzt. Entscheidend für den Totalitarismus ist jedoch, dass es Feindbilder gibt und sie einwandfrei modelliert wurden - niederträchtig und makellos böse. Dass erst der Totalitarismus selbst Bedrohungen (einschließlich Kriegen) hervorbringt, gegen die er sich dann inszenieren kann - gleichsam einem Feuerwehrmann, der ein Haus in Brand setzt, um die Bewohner dann daraus zu retten - scheint ebenfalls nur wenigen aufzufallen.
Kann man lernen, absurde Verhältnisse zu akzeptieren? Die Antwort ist ja. Doch zuvor gilt es, diese Bedingungen zu betrachten und ohne Wut, aber aufmerksam den Finger in die Wunde zu legen. Wie begegnet uns die Welt im Außen gerade? Selbst wenn Grundgesetz und Demokratie wieder volle Geltung erhielten – was nicht in Sichtweite ist –, wird es Jahrzehnte dauern, die Folgen und Wunden des gesellschaftlichen Umbruchs – der Angst, Spaltung, Autorität, Moralisierung, Krisen und Kriege – zu heilen.
15 Millionen Menschen über Nacht aus dem sozialen Leben ausgeschlossen
Ungeimpfte (die Zahlen variieren zwischen 12 und 20 Millionen in Deutschland) und (andere) „Regelbrecher“ gelten seit 2021 als Menschen zweiter Klasse und werden vom sozialen Leben stärker ausgegrenzt, als dies in Apartheidsregimen jemals der Fall war. Somit haben viele seit vielen Monaten keine Schwimmbäder, Restaurants, Zoos, Krankenhäuser, Museen, Kurse oder (Hoch-)Schulen mehr besucht, keine Reisen angetreten und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzt. Viele haben auch ihre Berufe verloren oder werden täglich in Betrieb oder Schule schikaniert: eine Ausgrenzung und Spaltung ohne jede wissenschaftliche, juristische und menschliche Rechtfertigung. Die Folgen sind Einsamkeit, Ausgrenzung, Armut, Wut und Verzweiflung.
Auch für Geimpfte gilt: Alle Lebensbereiche unter Pandemievorbehalt
Doch leiden bei Weitem nicht nur Ungeimpfte. Denn die meisten Lebensbereiche stehen ständig unter Pandemievorbehalt und begegnen uns nur in ihrer sterilisierten Rumpfversion. Voranmeldung, Onlinetickets, Einlasskontrollen, Impf-, Test-, Masken-, Abstands- und Ausweispflicht haben mit sozialem Miteinander so viel zu tun wie ein Krankenhausaufenthalt mit einem Wellnesswochenende: Es mag ähnlich aussehen, fühlt sich aber ganz anders an. Spontanität, Selbstbestimmung, freie Lebensgestaltung und die natürliche Intimität unserer vielen kleinen Vorhaben: Dies alles ist einem System der Überwachung, Reglementierung und sozialen Distanz gewichen, in dem es heißt: Gehorsam oder (sozialer) Tod. Auch die alljährliche Corona-Sommerlockerung ändert daran wenig.
Kinder und Jugendliche: freie Entwicklung und soziales Leben stillgelegt
Das trifft die Menschen am Anfang und Ende des Lebens am härtesten, weil sie auf Miteinander, Mitgefühl und Beistand – also soziale Nähe statt soziale Distanz – besonders angewiesen sind. So haben sich Internetnutzung, Computerspielzeiten, Depressionen, Essstörungen und Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen etwa verdoppelt, die Suizidversuche haben sich vervierfacht (vgl. Suizidversuche bei Kindern vervierfacht). Obwohl sie niemals eine pandemische Gefahr darstellten oder selbst gefährdet waren, wurde ihr Lebensraum von einem Hygieneregime gekapert und weitgehend stillgelegt. Die zögerlich wieder anlaufenden Präsenzangebote und „Lockerungen“ haben mit einer freien, gesunden Entwicklung nichts zu tun, und in den Schulen herrscht hygienische Zucht und Ordnung hinter Masken - von gönnerhaft eingeräumten Sommerlockerungen abgesehen. Freiheit, Gleichbehandlung und Würde der Schüler liegen weiterhin in der Hand der Länder, Regierungspräsidien, Kreise, Städte und sogar der Schulleiter bis hin zu den Lehrkräften. Die Schüler stehen somit am Ende der Hackordnung eines autoritären und nach "pandemischem Bauchgefühl" agierenden Systems. Ausgelassenes Miteinander und spontane Mobilität gibt es nicht mehr. Wer ausschert, wird ausgesondert - wer mitmacht, muss sich unbefristeter Fremdbestimmung und autoritär durchgeplanter Vereinzelung fügen. Dies ist bedrückend, beengend und beklemmend – exakt die Einflüsse, die sich in der Psyche junger Menschen wiederspiegeln.
Alte Menschen: Einsamkeit und Isolation als Preis für zusätzliche Lebensmonate?
Auch alte und kranke Menschen leiden besonders unter den Vereinzelungsmaßnahmen, die dem Motto folgen: „Gefahr Mensch“. Sie wurden nie gefragt, ob sie in dieser Weise vor anderen Menschen geschützt werden wollen, sondern isoliert und begrenzt. Somit wurde ihr Leben oftmals auf ihre biologische Existenz reduziert, ihre Lebensqualität auf Lebensquantität und ihr Eigenwert auf medizinische Referenzwerte. Wie die Zahlen zeigen, hat sie dies jedoch gerade nicht geschützt. Laut mehreren Hundert Obduktionen in Hamburg waren über 99 % der Coronaopfer entweder sehr krank oder sehr alt, meistens beides. Und die Infektion wurde keineswegs durch unglückliche Zufälle in die Heime und Kliniken hineingetragen. Diese Einrichtungen waren selbst die Superspreader. Unterversorgung, schlechte Lebensbedingungen, Enge, Personal in Quarantäne und eine politmedial befeuerte Aufnahme Infizierter in Krankenhäuser brachten die Pandemie zu den Alten und Kranken – die einzigen Gruppen, die wirklich hierdurch gefährdet waren. Sie wurden durch Hygienepanik nicht geschützt, sondern heimgesucht. Die Einsamkeit tat das Übrige, denn sie ist der größte Schmerz und die wichtigste Krankheits- und Todesursache für den Menschen. Und gerade sie sollte nun Gesundheit und Lebensjahre bescheren – eine groteske Annahme von Staatslenkern, die selbst schon sehr lange keine Fürsorge, Verantwortung und Empathie mehr für andere Menschen aufgebracht haben. So leben und sterben Alte und Kranke einsam – ein für die Nachkriegszeit einmaliger Kultur- und Zivilisationsbruch. Viele Betroffene und Angehörige konnten sich auf diese Weise nicht verabschieden, nicht beistehen und nicht die Hand reichen. Es wird Generationen dauern, bis die Wunden dieser radikalen Isolierung möglicherweise heilen können.
Risse gehen durch Partnerschaften, Familien und Freundeskreise
Auch für alle anderen Gruppen wirken sich die neuen Paradigmen – der Mensch als Gefährder, Begegnung als Infektionsvermeidung und Leben als Todesvermeidung – bedrückend und beengend aus. Viele Existenzen, Berufe, Ausbildungen, Vorhaben und Hobbys haben sich hygienisch aufgelöst. Alle Lebensbereiche, die mit Freiheit zu tun hatten, haben sich verändert oder sind verschwunden. Eltern von Kita- oder Schulkindern müssen taggleich auf staatliche Beschlüsse in Sachen sozialer Distanz reagieren und die psychische Belastung ihrer Kinder infolge von Kontaktbeschränkungen auffangen. Einsame Homeoffice-Kräfte ohne Team leben ebenso im pandemischen Absurdistan wie Gastronomen, Schausteller und Veranstalter ohne Gäste, Sportler ohne Sport und Musiker ohne Musik. Auch hier gilt: Die dritten Sommerlockerungen infolge ändern nichts am unbefristeten Ausnahmezustand und dem Fortbestehen der Maßnahmen. Erst eine offizielle unbefristete Wiederherstellung aller Grundrechte, ein Ausschluss zukünftiger Notstandsgesetze und -verordnungen, eine Rücknahme der Ermächtigungsparagrafen u. a. im IfSG und eine komplette Ablösung der nationalen Rechtslage von Expertisen der WHO und der Bundesbehörden wie RKI und PEI (diese vertreten weder "die Wissenschaft" noch eine demokratische oder humane Politik) würden wieder demokratische Verhältnisse herstellen.
Infolge der Spaltung der Gesellschaft verläuft ein Riss zwischen Geimpften und Ungeimpften, Maßnahmenbefürwortern und -gegnern, Konformisten und Freigeistern - mitten durch Partnerschaften, Teams, Freundschaften und Familien. Konflikte, Trennungen, Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Resignation, bis hin zur Verbitterung sind die Folge. Selbst wer konsequent hinter allen Maßnahmen steht und nur die Abweichler als Problem sieht, tut dies mit einem mulmigen Gefühl und dem Bewusstsein, dass der gesellschaftliche Frieden und frühere Freiheiten für lange Zeit verloren sind.
So weit, so deprimierend – oder vielleicht nicht? Ist möglicherweise gerade die unzensierte Betrachtung der aktuellen Bedingungen der erste Schritt zur Entspannung? Davon handelt der Beitrag "Gesund durch die Krise“.
Bildquelle: Shutterstock / Savvapanf Photo
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