Technokratie und Hoffnung

Rezension: „Der Kult: Über die Viralität des Bösen“

24.08.2022 von Christian Zehenter

Mit dem „Kult“ hält der Philosoph und Publizist Gunnar Kaiser der Gesellschaft den Spiegel vor. Viele Philosophen und Vordenker der Geschichte ruft er dazu als Zeugen auf, von Platon über Alexis de Tocqueville, Erich Fromm, Foucault und Hannah Arendt bis hin zu K. R. Popper, Herbert und Ludwig Marcuse, Horkheimer und Adorno. Wie konnten die Menschen so unbekümmert ihre Freiheit zu Markte tragen, Bedrohungs- und Heilserzählungen glauben und sich einem Kult anschließen, der sich von Macht, Angst, Spaltung, Gleichschaltung, Technokratie und Feindseligkeit nährt? Wie kann Unrecht über Nacht zu Recht werden, das Absurde zur Normalität und die Normalität zum Absurden? Warum tragen Menschen allein im Wald eine Maske? Wie konnten Demokratie, Menschlichkeit und Pluralismus handstreichartig durch Kontrolle, Überwachung, Cancel Culture und Gesinnungsdiktat ersetzt werden?

Gesellschaftsumbau mit dem Ziel einer zentralistischen Weltordnung

Gunnar Kaiser entblößt sorgfältig die Mechanismen des totalitären Gesellschaftsumbaus hinter vermeintlicher öffentlicher Fürsorge und Bedrohungsbekämpfung und erklärt die Rolle der Intellektuellen und „Coronazis“ als Treiber und Mitläufer: „Intellektuelle machen sich in einer Mischung aus Feigheit, geistiger Trägheit, überheblicher Arroganz, Opportunismus und ideologischer Blindheit ein weiteres Mal in der Geschichte zu Handlangern eines ebenso utopischen wie gefährlichen Gesellschaftsumbaus, der nichts weniger als eine zentralistische, dirigistische, planwirtschaftliche, illiberale und entdemokratisierte Weltordnung zum Ziel hat.“ „Der natürliche Zustand dieser neuen Normalität wird die Einschränkung sein (…).“ Für Kaiser geht es tatsächlich um ein Virus, allerdings ein Virus des Geistes, das die Menschen zu Anhängern eines Weltuntergangskultes macht und ihre Werte ins Lebensfeindliche verkehrt. Das biologische Virus dient lediglich als Vorwand: „Das Virus entscheidet über den Lockdown, über Maßnahmen, nicht wir, die Politiker, und schon gar nicht ihr, das Volk.“

Angst, Konformismus und technokratisches Menschenbild als Kult-Momente

Zugehörigkeitsbedürfnis, Massenpsychose, das „größere Wohl“ (als faschistisches Moment), verdrängte Emotionen, (Angst- und Rettungs-)Propaganda, Projektion und Narzissmus entlarvt Kaiser ebenso als Mechanismen des Kultes wie Konformismus, Infantilisierung, Bevormundung, maximalinvasive Macht, Sinnsuche und ein pathologisch-biologistisches, technokratisches Menschenbild. Verbunden mit einem (Pseudo-)Wissenschaftsdiktat und dem scheinbaren Sachzwang durch das Primat des technisch Machbaren und der Gefahrenabwehr ergibt sich ein Modell des modernen, defizitären, technisch-konformen Menschen und seiner begierigen Elite, die ganze andere Pläne hat als sein Wohlergehen. Kaiser schreibt: „Erfolgreiche Psychopathen kommen nicht ins Gefängnis oder psychiatrische Kliniken, sondern in die Parlamente und in die Regierung.“ Und später: „Dabei spielt es für die angestrebten gesellschaftlichen Umgestaltungen kaum eine Rolle, ob die Bedrohung real oder inszeniert beziehungsweise das höhere Gut erstrebenswert ist oder nicht.“ (…) „In dieser Welt werden die Mittel auf magische Weise zu Zwecken, weil die Mittel-Herstellung wesentlich mit ökonomischer Macht verbunden ist. (…) Für den Menschen bedeutet dies wiederum, dass sich seine Zwecke denen der Mittel-Produzenten unterzuordnen haben.“

Immer wieder stellt er dabei die Frage der Fragen: „Wie konnte all das bloß geschehen?“ Zugleich zeigt er Wege auf, Kult, Menschenfeindlichkeit und Totalitarismus zu erkennen und Alternativen zu entwickeln. Er beschreibt den Menschen als Wesen des Geistes und des Fühlens, das niemals auf seine biologische Funktion reduziert und auch nicht an ihr gemessen werden kann.

Philosophie als Spiegel der Gesellschaft: Vom Opportunismus zur Systemkritik

Hunderttausende Menschen haben Gunnar Kaiser bereits als einen der wichtigsten Vordenker der Freiheitsbewegung kennen und schätzen gelernt und durch seine Expertise, Menschen- und Freiheitsliebe, Mut und Ideen bezogen. Nun unterlegt er sein Engagement mit einer scharfsinnigen, kritischen und schonungslos ehrlichen philosophischen Lektüre. Dabei geht es nicht um Viren und Medizin, sondern um eine sich unter entsprechenden Narrativen zu einem totalitären System wandelnde Gesellschaft in einer neuen postdemokratischen Form des Staates, ebenso um Narrative, Psychologie und Soziologie. Kaiser bringt die Philosophie aus ihrem sterilen akademischen Raum zu den Menschen und zeigt, dass sie unangepasst, kritisch, hinterfragend und eine Zumutung sein darf und muss. Während sich seine Standeskollegen hinter dem Corona- und Gesinnungskult verschanzen und dem technokratischen und paternalistischen Umbau der Gesellschaft diensteifrig applaudieren, begibt er sich - wohlwissend um die Konsequenzen von Narrativkritik in einem Cancel-Staat - einmal mehr aus der Deckung und liefert zugleich philosophische Fachlektüre (die als solche eine gewisse Literatur-Erfahrung erfordert) und unverblümte Systemkritik.

Ohne das Wissen, dass das Corona-Narrativ bald nach Erscheinen durch das ebenso radikale Ukraine-Narrativ ergänzt und zum Teil abgelöst werden würde, beschrieb er alle Mechanismen, die für beide und weitere Erzählungen sowie die damit verbundene Radikalisierung der Staaten und Gesellschaften gelten, mit tragenden Säulen wie Angst, Zugehörigkeit, Gehorsam, Kontrolle, Überwachung, Technokratie, Interventionismus - und Weltuntergangskult.

Brillant, scharfsinnig, schonungslos und literarisch anspruchsvoll

Doch gibt es überhaupt noch Handlungsmöglichkeiten? Gunnar Kaiser erklärt dazu: „Erst wenn wir uns des eigenen Selbst gewahr werden, wenn wir eine eigene Stimme bekommen und den Mut aufbringen, mit dieser eigenen Stimme zu sprechen, und wenn wir wieder Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, die eigenen Ideen, Gedanken und Lebensentwürfe fassen – erst dann lässt sich lernen, frei zu denken.“ (…) „Wir sind dazu aufgerufen, unsere Situation als Ruf des Abenteuers zu erkennen, das darin besteht, Inseln der Freiheit, der Lebendigkeit und der Resonanz aufzubauen, die von einem anderen Menschenbild geprägt sein werden als dem, das uns die Misere beschert hat.“

Ein brillant, scharfsinnig, schonungslos, literarisch anspruchsvoll und zugleich in tiefer Liebe zum Menschen, seiner Menschlichkeit und Freiheit geschriebenes philosophisches Buch, das beschreibt, wie es zum Kult kommen konnte und wie wir ihn wieder überwinden.

Gunnar Kaiser: Der Kult. Über die Viralität des Bösen. 356 S. München: Rubikon; 2022

 

Bildquelle: Rubikon Verlag

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