Selbstüberhöhung, Propaganda und Eskalierung auf allen Seiten

Selbstbetrunken in den (kalten) Krieg

28.02.2022 von Christian Zehenter

Den Tiger in die Enge treiben - nach diesem irrwitzigen Motto marschieren die Regierungen ebenso konsequent wie selbstbetrunken in einen Krieg mit Russland - und sei es auf Dauer auch "nur" ein kalter. Nichts rechtfertigt kriegerische Aktivitäten von irgendeiner Seite. Doch die Selbstüberhöhung, vollmundige Konfrontation, Feindbilder, verbale und militärische Aufrüstung seitens der Westmächte entspringen einer jahrelangen Geschichte der Aufheizung und Eskalation. Dazu zählen die Nato-Osterweiterung (während Russland seine Truppen aus Osteuropa und vielen anderen Ländern abzog), das Nato-Beitrittsangebot an die Ukraine, deren Behandlung als westlicher Quasi-Bündnispartner einschließlich Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfen. Sogar Deutschland liefert nun unter dem Applaus der "Friedensbewegung" Waffen in das Kriegsgebiet - obwohl dies laut eigenen Gesetzen und Statuten verboten ist. Gerade hat der Bundestag unter dem Jubel von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP ein 100-Milliarden-Paket für Aufrüstung beschlossen. Politik- und Geschichtsexperten wie der ehemalige Stabschef im Kanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Albrecht Müller ziehen hier deutliche Parallelen zum Jahr 1914, in dem die "Friedenspartei" SPD den großen deutschen Kriegskrediten zustimmte und damit "endlich" den Weg für den ersten Weltkrieg freimachte. Wir alle kennen das Ergebnis.

Viele wollen Eskalation, fast niemand entspannt, entwarnt oder fragt

Doch wie bei fast allen Kriegen stecken hinter den Vorgängen nicht einzelne Personen - oder gar nur eine einzige -, sondern ein System systematischer, jahrelanger Aufheizung durch die Katastrophen- und Kriegsprofiteure: mächtige Eliten mit ihren "young global leaders", die wirtschaftlich oder politisch profitieren, sowie Millionen, die vom Futtertrog der Bedeutsamkeit magisch angezogen werden. Kaum jemand, der entspannt, entwarnt, einlenkt, abwägt oder fragt. Es spricht der Zorn der Gerechten, das Primat der Tugend, der Imperativ der Entschlossenheit und Vernunft. Während jedoch die Entscheider selbst nie eine Waffe abfeuern, sicher in ihren bürgerlichen Wohnvierteln logieren und hervorragend durch die anschließende Finanz- und Wirtschaftskrise kommen, leidet die Bevölkerung - unter dem Alarmismus, Totalitarismus und Moralismus, der rhetorischen und physischen Gewalt, der Spaltung, Inflation, Existenzgefährdung und Unsicherheit, dem Unfrieden und der nie endenden, systematischen Unruhe und Entgrenzung. Dies gilt ganz unabhängig vom Ausgang des Russland-Ukraine-Konflikts - und auch nicht erst seit diesem.

Denn vorausgegangen ist dem kriegerischen Treiben eine rund 20-jährige Aufheizung seitens der westlichen Mitte-Kräfte, gipfelnd in einer Moral-, Kontroll- und Regulierungsoffensive gegen alle öffentlichen und privaten Lebensbereiche bis hin zur Meinung und Sprache selbst. Ein bereits zur neuen Normalität gewordener pandemischer Ausnahmezustand wurde mit ständig wechselnden Begründungen und Zielpunkten entfristet.  

Staaten, die einst in Jugoslawien, Libyen und den Irak einmarschierten und die halbe Welt mit Waffen beliefern, pochen nun auf das Völkerrecht

Nun sprechen Staaten, die ohne Mandat in den Irak und Libyen einmarschiert sind, die Abspaltung der jugoslawischen Republiken durchgesetzt und beklatscht, in 20 Jahren Afghanisten ein humanitäres Fiasko hinterlassen und in einem Dutzend Länder der Welt "Friedens-"Armeen stationiert haben, von Völkerrecht und nationaler Souveränität. Ausgerechnet die EU wirft sich in die Brust, die unter ihren Mitgliedsstaaten höchstselbst die Aufweichung nationaler Souveränität massiv vorantreibt, keine Abweichler duldet, Aussteiger (wie Großbritannien) ächtet und rechtswidrig eine Schuldenunion begründet hat. Staaten, die wie Deutschland ein Viertel ihrer eigenen Bevölkerung (Ungeimpfte) vom sozialen Leben und sogar Reisen und Krankenhäusern ausschließen, sprechen von Menschenrechten. Und Regierungen, die seit zwei Jahren auf Propaganda, Gleichschaltung und Eskalierung setzen, beklagen nun bei ihrem "Feind": Propaganda, Gleichschaltung und Eskalierung. Dies enthebt keinen Beteiligten der Verantwortung und darf keinen Krieg rechtfertigen. Aber die Westmächte, die nun als säbelrasselnde Friedens- und Moralhüter Sühne fordern und mit Sanktionen und Waffenlieferungen die Situation weiter anheizen, haben die Jahre zuvor das ihnen Mögliche für eine Eskalation getan.

Um sich als Problemlöser zu inszenieren, muss Politik Probleme schaffen

Schon immer in der Geschichte floss am Ende Blut, wenn Grundrechte und Freiheiten abgeschafft wurden. Die Menschen haben offenbar nichts daraus gelernt. Und so können es viele Beteiligte anscheinend gar nicht erwarten, der Atommacht Russland säbelrasselnd den Marsch zu blasen und mit Halali in die Schlacht der Gerechten gegen den ausgemachten Feind zu ziehen - und sei es zumindest ein neuer Kalter Krieg. Denn wie jede Krise erhöht dieser nochmals die Bedeutung der Politik. Sie muss Probleme schaffen, um sich wieder und wieder als Problemlöser zu inszenieren - Katastrophe um Katastrophe, Rettungsnarrativ um Rettungsnarrativ. Die (scheinbare) Stärke der Staaten, die Freiheit und Frieden zerstört, soll diese nun mit der Waffe in der Hand wiederherstellen. Entsprechend verlegen die USA Gerät und Soldaten zu Zigtausenden in die Vorgärten Russlands - während Europa begeistert applaudiert und als Papiertiger und Heulboje Pate steht. "Schließlich hat Framing, Diffamierung und Moralisierung ja auch bei Corona, Klima, Terrorismus und Extremismus funktioniert - dann sicher auch bei Russland." Für Zensur und Meinungsdiktat lieferte Münchens Oberbürgermeister Peter Grimm das jüngste Beispiel: Er drohte, wie das Medienportal Achgut im Beitrag Warum der Zwang zu einem Anti-Putin-Bekenntnis? berichtet, dem Chefdirigenten der Münchner Philharmoniker, Valery Gergiev, mit Entlassung, wenn dieser nicht öffentlich gegen Putin Stellung beziehe. Mittlerweile wurde die Drohung verwirklicht.

Um es noch einmal klarzustellen: Dies alles enthebt Russland nicht der Verantwortung und kann keinen Krieg rechtfertigen, niemals. Doch was trieb die Nato dazu, vor den Toren Russlands zu zündeln? Damit nicht genug, wird nun sogar beschleunigter ein EU-Beitritt der Ukraine diskutiert. Zugleich stehen die USA bereits im nächsten Konflikt mit China, nachdem sie - dem Ukrainekonflikt fast zum Verwechseln ähnlich - das vorgelagerte Taiwan großzügig mit Waffen beliefern und zu einem Quasi-Bündnispartner gemacht haben, wie Report 24 berichtet. Nachdem auch die Großmächte Indien und Brasilien mehrfach vor den Kopf gestoßen wurden, wollen sich Europa und die USA offenbar mit Nachdruck in der Welt isolieren - vielleicht sogar in dem träumerischen Glauben, sie wären diese Welt - oder zumindest ihr Mittelpunkt. Der Hauptleidtragende wird die europäische Bevölkerung sein, auf die - essenziell geschwächt durch zwei Jahre Spaltung und Freiheitseinschränkungen - nun eine Finanz-, Wirtschafts- und Energiekrise noch unbekannten Ausmaßes zukommt.

Ganze Nation in diplomatischer Geiselhaft

Wie nun ein aufgetauchtes Gesprächsprotokoll bewies, sicherten die Westmächte Russland in den 1990er-Jahren in Bonn zunächst zu, die Nato nicht nach Osten zu erweitern. Danach haben sie jedoch gerade dies mit missionarischem Eifer vorangetrieben - und boten zuletzt der Ukraine die Mitgliedschaft an, ohne dies je zurückzunehmen (was die Lage entscheidend entspannt hätte). Auch Deutschland eskalierte mehr als entschlossen zu (ver-)handeln: Drohung, Verurteilung, Ächtung - bis hin zum dilettantischen Verbot des russischen Senders RT in Deutschland und dem einseitigen Absprung von Nordstream 2 - der das eigene Land vom dringend benötigten Gas abschneidet. Wie so oft überschätzt der Westen seine Bedeutung und vergisst, dass gerade Europa unter den eigenen Sanktionen am stärksten leiden wird, während längst eine alternative asiatisch-russische Allianz geschmiedet wurde, die es immer entbehrlicher und unbedeutender macht. Doch in vielen Köpfen der Europäer dreht sich noch der Globus des 19. Jahrhunderts, als sie die Welt unter sich aufteilten. Für ihren dennoch selbstbetrunkenen und zugleich unbeholfenen Kurs nehmen unsere frischgewählten (Nachwuchs-)Politiker/innen dann auch einmal einige Hundert Millionen Menschen in Geiselhaft: die Menschen die für ihre erratische Politik und Diplomatie bezahlen.

Die meisten der Entscheider haben im realen Leben kaum je Verantwortung und Mitgefühl für andere Menschen aufgebracht, Mangel gelitten, einen Krieg erlebt oder eine Waffe abgefeuert. Doch mit Kriegsrhetorik sind sie umso großzügiger und ziehen mit den Mitteln ins Feld, die im Inland seit 2020 so gut funktioniert haben: Arroganz, Moralisierung, Totalisierung, Narzissmus und Zwang - und spielen als zahnloser Tiger selbstverliebt mit dem Feuer. Wie bereits angesichts der aktuellen Freiheitseinschränkungen, Vereinzelung, Insolvenzen und Teuerungen gilt auch hinsichtlich Krieg und Frieden: In Prenzlauer Berg, Altona oder Schwabing lebt es sich warm und trocken, während andere weinen.

"Das Wort Krieg wird federleicht in den Mund genommen"

Albrecht Müller schreibt dazu hier: "Das Wort Krieg wird federleicht in den Mund genommen. Es gibt unter den politisch Verantwortlichen und medial Verantwortlichen kaum noch Menschen, die persönlich erlebt haben, was Krieg bedeutet. Seit Beendigung der Wehrpflicht müssen sich junge Menschen auch nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen, ob sie sich an kriegerischen Handlungen beteiligen würden. (...) Die Mehrheit der Medien ist offensichtlich viel mehr als in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt vom westlichen, vom atlantischen, vom US-amerikanischen Denken. Wir müssen nüchtern feststellen, dass die USA, die NATO und die westliche Ideologie die Personalpolitik der Printmedien wie auch der Öffentlich-Rechtlichen wesentlich bestimmt hat."

 

Bildquelle: Shutterstock / pixelklex

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